Leseprobe Gernot von Kahlenberg
Als er die Stallungen erreichte, traf er zufällig Régis von Montferrat und erzählte diesem von seinem Vorhaben. „Ihr wollt euer Pferd bewegen?” „Ja, mein Pferd hat lange genug ruhig gestanden. Es wird Zeit, es wieder zu bewegen.” „Aber doch wohl nicht so?”, bemerkte Régis. „Was heißt ‚nicht so’?”, entgegnete Gernot. „Ohne Waffen.” „Ich möchte doch nur mein Pferd etwas bewegen. Das ist alles.” „Junger Mann, ihr seid hier in einer Gegend, die man zwar das Heilige Land nennt, aber heilig ist hier wenig. Hier herrscht Krieg. Sicher sind eigentlich nur die Städte, und nicht einmal die. Verlässt man Akkon, muss man immer mit einem Angriff rechnen. Es gelingt räuberischen Banden immer wieder, aus den östlichen Gebieten bis zur Küste vorzudringen. Zusätzlich gibt es im Augenblick an der Grenze zu Damaskus wieder einige Scharmützel. König Balduin hat sich mit einer kleinen Truppe – nach meiner Meinung mit einer viel zu kleinen Truppe – auf den Weg ins Grenzgebiet gemacht, um dort für Ruhe zu sorgen. Im Heiligen Land gilt: Will man überleben, dann muss man gerüstet sein. Schild, Schwert, Bogen, wenn möglich eine Rüstung gehören dazu. Und den Helm darf man nicht vergessen. Das ist ein absolutes Muss. Seht, ich bin hier der Hafenmeister, ich bin meistens mit einer kleinen Truppe unterwegs. Trotzdem würde ich mein Haus nie ohne Schwert verlassen. Selbst nicht hier in Akkon. Es gibt Leute, die besuchen selbst den Gottesdienst nur in voller Rüstung. Ihr befindet euch zwar im Königreich Jerusalem, aber flächenmäßig ist dieses im Vergleich mit Königreichen in Europa nur sehr klein. Wir beherrschen dieses Land erst seit gut zehn Jahren. Da kann man keine Sicherheit erwarten. Zwei Dutzend Nationalitäten gibt es hier, genauso viele Sprachen und Religionen oder Religionsgemeinschaften. Jeder nimmt für sich in Anspruch, rechtmäßig zu herrschen. Die anderen glauben das aber nicht und respektieren nur die Macht. Und diese steckt in der Bewaffnung.” Gernot war etwas verdutzt, bedankte sich aber und versprach Obacht zu geben. Er war froh, als er die Stadt hinter sich hatte. Der Ritt tat ihm und dem Pferd gut. Er ritt am Berg Toron vorbei, von wo er einen guten Überblick über die Stadt gewann. Überall an den Mauern wurde gearbeitet. Sie wurden verstärkt, erhöht, Lücken wurden geschlossen. Jetzt verstand er, was Régis von Montferrat gemeint hatte. Hier lebte man nur hinter dicken Mauern sicher. Er ritt weiter in Richtung einer Erhöhung, die sich Tell al-Ajjadija nannte. Von dort konnte er die ganze Gegend überblicken. Er drehte sich um und sah Akkon, links daneben die Küstenebene, nach Süden erstreckte sich ein zum Teil sehr hügeliges Land. Er wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als er plötzlich eine Stimme hörte, die in gebrochenem Französisch sagte: „Da ist ja einer der gestern erst Angekommenen. Kaum da und schon tot.” Drei Männer zu Pferde zeigten sich, die mit Schwert und Schild bewaffnet waren. „Es ist nur die Frage”, antwortete Gernot auf Arabisch, „wer hier gleich tot ist.” Er riss sein Schwert aus der Scheide, schwang seinen Schild nach vorne und sprengte mit „Du” auf den ersten der Männer los. Die Verblüffung ob der arabischen Wörter stand ihm im Gesicht. Die Überraschung hatte den Mann einhalten lassen. Ein Fehler. Ein tödlicher Fehler. Denn er war noch auf Angriff eingestellt, nicht auf Verteidigung. Gernot versetzte ihm zwei heftige Schläge, die ihn aus dem Sattel beförderten und ihn stark blutend auf die Erde schickten. Sofort griff Gernot den nächsten Gegner an, der sich augenscheinlich von seinem Schrecken erholt hatte. Es nutzte ihm jedoch wenig, da er der Kraft Gernots nur wenig entgegenzusetzen hatte. Er war schon verletzt, als der dritte Reiter versuchte, Gernot von hinten anzugreifen. Die Auseinandersetzung dauerte kaum eine Minute, bis auch diese beiden am Boden lagen. Beide waren verletzt, jedoch nicht so schwer wie der erste Gegner. Vorsichtig stieg Gernot vom Pferd und näherte sich den Verletzten. Die rechneten wohl damit, getötet zu werden und waren überrascht, als das nicht geschah. Gernot sammelte die drei Pferde ein, ebenso die Waffen der Verletzten und sagte auf Arabisch: „Wenn ihr euch nicht bewegt, werde ich euch verbinden. Bewegt ihr euch, seid ihr tot.” Er riss vom Umhang des ersten Gegners, der mittlerweile gestorben war, einige Stoffstreifen ab und verband damit die beiden anderen. Diese schienen nicht zu begreifen, was mit ihnen geschah, hielten aber still. Dann band er die drei Pferde zusammen, belud sie mit den Waffen, nahm die Zügel des ersten Pferdes und bestieg sein eigenes. „Warum hast du uns nicht getötet „al-Faris abyad”?” „Al-Faris abyad”? Gernot sah an sich runter. Er trug die weiße Kleidung, die Anna ihm geschenkt hatte, dazu kam sein Schimmel. Al-Faris abyad? Nicht schlecht. Der „weiße Ritter”. Das passte. „Weil al-Faris abyad keine Wehrlosen tötet.” Damit ritt er davon in Richtung Akkon. Bei den Stallungen traf er wieder auf Régis. „Pferde gekauft?”, fragte dieser. „Eher Pferde erstanden. Sie kosteten nichts.” •••••••• „Gernot, ich ziehe mit den Resten meines Heeres nach Jerusalem. Es wird Zeit, dass ich da nach dem Rechten sehe. Ihr habt ja bei eurem Sieg über die Fatimiden einige erfreuliche Beutestücke gemacht. Wenn ich nur an das Zelt denke, das ist schon beachtlich. Dazu kommt eine größere Summe an Geld.” „Arnulf sagte, es sei genug, um eure Ausgaben für diesen Kriegszug zu decken und es würde sogar noch etwas übrig bleiben.” „Wie gesagt”, entgegnete Balduin, „ich ziehe morgen los, aber ich halte es für angemessen, wenn sich jemand um das Lehen Tiberias kümmert. Nur für eine gewisse Zeit. Könnt ihr das übernehmen?” Gernot klingelten die Ohren. Er brauchte keine dumme Ausrede mehr, um nach Tiberias zu gelangen, er ritt in offiziellem Auftrag. „Aber gerne”, sagte Gernot, „ihr habt absolut Recht. Berengaria muss geholfen werden. Ich könnte für einige Zeit da bleiben und mich um die Sachen kümmern, um die sich früher Guillaume gekümmert hat und seinem Sohn so zur Hand gehen.” „Das ist es, was ich sagen wollte. Guillaume hat sein Leben im Kampf für mein Königreich verloren. Deshalb ist es Christenpflicht, hier Hilfe anzubieten.” „Christenpflicht”, dachte Gernot, „wohl eher nicht. Hier ging es um Machtinteressen. Ein Lehen stand ohne Lehnsmann da, sein Sohn war noch zu jung. Unchristlich wäre es gewesen, dieses Lehen einem anderen Ritter jetzt anzutragen, obwohl das durchaus möglich gewesen wäre, da im Königreich Jerusalem die Lehen nicht vererbt werden konnten. Sie waren lediglich an die Person gebunden.” Die Gefahr, dass die muslimischen Truppen doch noch zurückkehren würden, war gebannt. Der Rückzug war keine Finte, sondern der Tatsache der christlichen Einheit zu verdanken. Als sicher war, dass dieses Heer bald Damaskus erreichen würde, brach Balduin sein Zelt ab, ließ seine Lasttiere beladen und zog nach Süden, nach Jerusalem. Vom Berg Tabor nach Tiberias war es nur einen Katzensprung, den Berg runter, dann noch zwei Stunden mit dem Pferd. Gernot war zur gleichen Zeit wie Balduin aufgebrochen und sah gegen Mittag bereits die Mauern von Tiberias. Es waren keine furchteinflößenden Mauern, ein Heer aber würde doch eine gewisse Zeit brauchen, um die Stadt zu erstürmen. Und ganz ohne Belagerungsgeräte war auch bei diesen Mauern nichts zu machen. Maudud hatte seinen Kriegszug begonnen, ohne dass er an eine Belagerung überhaupt gedacht hatte. Das flache Land zu besetzen, das war das Eine. Die Städte zu erobern, das war etwas Anderes. Die Nachricht vom Abrücken der muslimischen Truppen hatte sich längst in der Gegend um Tiberias rumgesprochen. Die Bauern, die in den Städten Zuflucht gesucht hatten, waren auf ihre Äcker zurückgekehrt oder zu dem, was übrig geblieben war. So ritt Gernot mit seiner Truppe durch ein geöffnetes Stadttor, das zwar bewacht wurde, wie auch die Mauern, aber aus dem mehr Leute herausströmten als herein. Es dauerte nicht lange, eine Frage reichte, und sie standen vor dem Haus des Lehnsherrn von Tiberias. Es war ein großes Haus, mit dicken Mauern, zweistöckig und einer Terrasse auf dem zweiten Stock, aber nicht vergleichbar mit einer europäischen Burg. Dieses Haus bot lediglich Platz, viel Platz, aber keine Sicherheit. Dafür mussten die Mauern und die Soldaten von Tiberias sorgen. „Meldet mich der Herrin von Tiberias”, sagte Gernot zu einer Wache. „Mein Name ist Gernot von Kahlenberg.” Er stieg vom Pferd und führte es am Zügel zum Haus, wo er es stehen ließ. Da kam Berengaria aus dem Eingang herausgeschossen und fiel ihm praktisch um den Hals. „Endlich!”, sagte sie, „ich hatte schon Angst, dass man uns hier vergisst.” „Niemand hat Euch vergessen, wie könnte man das auch. Ich bin hier mit einer Botschaft von König Balduin und um Euch zu helfen.” „Dann komm rein! Ich brauche dich, ich weiß sonst nicht, wie es weitergehen soll!”, entgegnete sie. Halt! Stopp! Sie duzt mich, dann darf ich das auch. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich sorge für deine Sicherheit. Das Lehen bleibt in deiner Hand.” „Jetzt komm erst mal rein! Eine Frau kann doch kein Lehen halten. Das hat es noch nie gegeben.” „Bran, sorge für unsere Pferde und für eine Unterkunft!”, wandte er sich an seinen Freund und fuhr an Berengaria gerichtet fort: „Gehen wir rein, dann erfährst du alles.” Sie hatte ihn am Arm ergriffen und ließ ihn nicht mehr los. Da war jemand in großer Not. Gernot ahnte, dass sein Aufenthalt etwas länger als geplant dauern würde. Sie führte ihn in ein kleineres Zimmer und bat ihn, sich zu setzen. Sie setzte sich neben ihn, ziemlich nah, fand Gernot, der ins Schwitzen geriet, was aber nicht von der Temperatur ausging. Jetzt schossen ihm Gedanken durch den Kopf, die er gar nicht ordnen konnte: Die Frau ist zu alt für dich! Zugegebenermaßen sehr schön. Aber gerade erst Witwe geworden! Das gehört sich alles nicht. Warum nicht? Konventionen! Stimmt nicht. Tankred hatte seine Frau auf dem Sterbebett an Pons von Tripolis sozusagen weitergereicht. In diesem Land war alles möglich. Berengaria hielt immer noch seine Hand, die schon arg schwitzte. Wie würde das weitergehen? „Also, jetzt erzähl mir”, begann sie, „was Balduin über mich beschlossen hat. Soll ich dich jetzt heiraten?” „Ich dich heiraten? Nein, das würde er nie befehlen. Nicht, dass ich etwas dagegen machen könnte, wenn er es befehlen würde, aber so etwas tut er nicht. Balduin hat die Absicht, Ramon zu seinem Lehnsmann zu machen. Das Lehen kann er aber erst mit 18 Jahren antreten. Solange sollst du als Regentin eingesetzt werden, als Vormund, wie auch immer du das bezeichnest. Dann aber leistet Ramon den Lehnseid und du bist dann nur noch Mutter.” „Damit könnte ich gut leben, denn ohne Tiberias hätten wir hier kein Auskommen mehr, eine Rückkehr nach Bar-le-Duc oder in meine Heimat kommt kaum in Frage. Ramon und Gérard sehen hier ihre Zukunft.” „Wo sind die beiden eigentlich?” „Da, wo ein künftiger Lehnsherr zu sein hat”, erwiderte sie, „bei seinen Bauern. Er hilft beim Wiederaufbau. Hier lag ja schließlich genug Baumaterial herum.” „Und was ist mit Guillaume?” „Was soll mit ihm sein? Er ist im Kampf für seinen König gefallen. Das ist das Schicksal eines Lehnsmannes. Wir haben ihn hier beerdigt und die Bevölkerung hat ein großes Kreuz über seinem Grab errichtet. Guillaume war sehr beliebt bei seinen Untertanen. Meine Trauer vollziehe ich im Stillen, nicht in der Öffentlichkeit. Diese Stadt braucht eine starke Frau, keine, die mit ihrem Schicksal hadert. Aber ich bin froh, dass du da bist. Schon in Trani habe ich gewusst, dass wir uns wiedersehen werden. Dass dies unter diesen Umständen geschieht, war nicht vorhersehbar. Aber so ist es nun mal.” Sie legte ihren Kopf an seine Schultern und sagte noch: „Bleib etwas länger! Ich werde dich brauchen, auch eine scheinbar starke Frau muss sich mal anlehnen dürfen.”
Claude LeRouge Willkommen auf der Autorenhomepage  von
Leseprobe Gernot von Kahlenberg
Als er die Stallungen erreichte, traf er zufällig Régis von Montferrat und erzählte diesem von seinem Vorhaben. „Ihr wollt euer Pferd bewegen?” „Ja, mein Pferd hat lange genug ruhig gestanden. Es wird Zeit, es wieder zu bewegen.” „Aber doch wohl nicht so?”, bemerkte Régis. „Was heißt ‚nicht so’?”, entgegnete Gernot. „Ohne Waffen.” „Ich möchte doch nur mein Pferd etwas bewegen. Das ist alles.” „Junger Mann, ihr seid hier in einer Gegend, die man zwar das Heilige Land nennt, aber heilig ist hier wenig. Hier herrscht Krieg. Sicher sind eigentlich nur die Städte, und nicht einmal die. Verlässt man Akkon, muss man immer mit einem Angriff rechnen. Es gelingt räuberischen Banden immer wieder, aus den östlichen Gebieten bis zur Küste vorzudringen. Zusätzlich gibt es im Augenblick an der Grenze zu Damaskus wieder einige Scharmützel. König Balduin hat sich mit einer kleinen Truppe – nach meiner Meinung mit einer viel zu kleinen Truppe – auf den Weg ins Grenzgebiet gemacht, um dort für Ruhe zu sorgen. Im Heiligen Land gilt: Will man überleben, dann muss man gerüstet sein. Schild, Schwert, Bogen, wenn möglich eine Rüstung gehören dazu. Und den Helm darf man nicht vergessen. Das ist ein absolutes Muss. Seht, ich bin hier der Hafenmeister, ich bin meistens mit einer kleinen Truppe unterwegs. Trotzdem würde ich mein Haus nie ohne Schwert verlassen. Selbst nicht hier in Akkon. Es gibt Leute, die besuchen selbst den Gottesdienst nur in voller Rüstung. Ihr befindet euch zwar im Königreich Jerusalem, aber flächenmäßig ist dieses im Vergleich mit Königreichen in Europa nur sehr klein. Wir beherrschen dieses Land erst seit gut zehn Jahren. Da kann man keine Sicherheit erwarten. Zwei Dutzend Nationalitäten gibt es hier, genauso viele Sprachen und Religionen oder Religionsgemeinschaften. Jeder nimmt für sich in Anspruch, rechtmäßig zu herrschen. Die anderen glauben das aber nicht und respektieren nur die Macht. Und diese steckt in der Bewaffnung.” Gernot war etwas verdutzt, bedankte sich aber und versprach Obacht zu geben. Er war froh, als er die Stadt hinter sich hatte. Der Ritt tat ihm und dem Pferd gut. Er ritt am Berg Toron vorbei, von wo er einen guten Überblick über die Stadt gewann. Überall an den Mauern wurde gearbeitet. Sie wurden verstärkt, erhöht, Lücken wurden geschlossen. Jetzt verstand er, was Régis von Montferrat gemeint hatte. Hier lebte man nur hinter dicken Mauern sicher. Er ritt weiter in Richtung einer Erhöhung, die sich Tell al-Ajjadija nannte. Von dort konnte er die ganze Gegend überblicken. Er drehte sich um und sah Akkon, links daneben die Küstenebene, nach Süden erstreckte sich ein zum Teil sehr hügeliges Land. Er wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als er plötzlich eine Stimme hörte, die in gebrochenem Französisch sagte: „Da ist ja einer der gestern erst Angekommenen. Kaum da und schon tot.” Drei Männer zu Pferde zeigten sich, die mit Schwert und Schild bewaffnet waren. „Es ist nur die Frage”, antwortete Gernot auf Arabisch, „wer hier gleich tot ist.” Er riss sein Schwert aus der Scheide, schwang seinen Schild nach vorne und sprengte mit „Du” auf den ersten der Männer los. Die Verblüffung ob der arabischen Wörter stand ihm im Gesicht. Die Überraschung hatte den Mann einhalten lassen. Ein Fehler. Ein tödlicher Fehler. Denn er war noch auf Angriff eingestellt, nicht auf Verteidigung. Gernot versetzte ihm zwei heftige Schläge, die ihn aus dem Sattel beförderten und ihn stark blutend auf die Erde schickten. Sofort griff Gernot den nächsten Gegner an, der sich augenscheinlich von seinem Schrecken erholt hatte. Es nutzte ihm jedoch wenig, da er der Kraft Gernots nur wenig entgegenzusetzen hatte. Er war schon verletzt, als der dritte Reiter versuchte, Gernot von hinten anzugreifen. Die Auseinandersetzung dauerte kaum eine Minute, bis auch diese beiden am Boden lagen. Beide waren verletzt, jedoch nicht so schwer wie der erste Gegner. Vorsichtig stieg Gernot vom Pferd und näherte sich den Verletzten. Die rechneten wohl damit, getötet zu werden und waren überrascht, als das nicht geschah. Gernot sammelte die drei Pferde ein, ebenso die Waffen der Verletzten und sagte auf Arabisch: „Wenn ihr euch nicht bewegt, werde ich euch verbinden. Bewegt ihr euch, seid ihr tot.” Er riss vom Umhang des ersten Gegners, der mittlerweile gestorben war, einige Stoffstreifen ab und verband damit die beiden anderen. Diese schienen nicht zu begreifen, was mit ihnen geschah, hielten aber still. Dann band er die drei Pferde zusammen, belud sie mit den Waffen, nahm die Zügel des ersten Pferdes und bestieg sein eigenes. „Warum hast du uns nicht getötet „al- Faris abyad”?” „Al-Faris abyad”? Gernot sah an sich runter. Er trug die weiße Kleidung, die Anna ihm geschenkt hatte, dazu kam sein Schimmel. Al-Faris abyad? Nicht schlecht. Der „weiße Ritter”. Das passte. „Weil al-Faris abyad keine Wehrlosen tötet.” Damit ritt er davon in Richtung Akkon. Bei den Stallungen traf er wieder auf Régis. „Pferde gekauft?”, fragte dieser. „Eher Pferde erstanden. Sie kosteten nichts.” •••••••• „Gernot, ich ziehe mit den Resten meines Heeres nach Jerusalem. Es wird Zeit, dass ich da nach dem Rechten sehe. Ihr habt ja bei eurem Sieg über die Fatimiden einige erfreuliche Beutestücke gemacht. Wenn ich nur an das Zelt denke, das ist schon beachtlich. Dazu kommt eine größere Summe an Geld.” „Arnulf sagte, es sei genug, um eure Ausgaben für diesen Kriegszug zu decken und es würde sogar noch etwas übrig bleiben.” „Wie gesagt”, entgegnete Balduin, „ich ziehe morgen los, aber ich halte es für angemessen, wenn sich jemand um das Lehen Tiberias kümmert. Nur für eine gewisse Zeit. Könnt ihr das übernehmen?” Gernot klingelten die Ohren. Er brauchte keine dumme Ausrede mehr, um nach Tiberias zu gelangen, er ritt in offiziellem Auftrag. „Aber gerne”, sagte Gernot, „ihr habt absolut Recht. Berengaria muss geholfen werden. Ich könnte für einige Zeit da bleiben und mich um die Sachen kümmern, um die sich früher Guillaume gekümmert hat und seinem Sohn so zur Hand gehen.” „Das ist es, was ich sagen wollte. Guillaume hat sein Leben im Kampf für mein Königreich verloren. Deshalb ist es Christenpflicht, hier Hilfe anzubieten.” „Christenpflicht”, dachte Gernot, „wohl eher nicht. Hier ging es um Machtinteressen. Ein Lehen stand ohne Lehnsmann da, sein Sohn war noch zu jung. Unchristlich wäre es gewesen, dieses Lehen einem anderen Ritter jetzt anzutragen, obwohl das durchaus möglich gewesen wäre, da im Königreich Jerusalem die Lehen nicht vererbt werden konnten. Sie waren lediglich an die Person gebunden.” Die Gefahr, dass die muslimischen Truppen doch noch zurückkehren würden, war gebannt. Der Rückzug war keine Finte, sondern der Tatsache der christlichen Einheit zu verdanken. Als sicher war, dass dieses Heer bald Damaskus erreichen würde, brach Balduin sein Zelt ab, ließ seine Lasttiere beladen und zog nach Süden, nach Jerusalem. Vom Berg Tabor nach Tiberias war es nur einen Katzensprung, den Berg runter, dann noch zwei Stunden mit dem Pferd. Gernot war zur gleichen Zeit wie Balduin aufgebrochen und sah gegen Mittag bereits die Mauern von Tiberias. Es waren keine furchteinflößenden Mauern, ein Heer aber würde doch eine gewisse Zeit brauchen, um die Stadt zu erstürmen. Und ganz ohne Belagerungsgeräte war auch bei diesen Mauern nichts zu machen. Maudud hatte seinen Kriegszug begonnen, ohne dass er an eine Belagerung überhaupt gedacht hatte. Das flache Land zu besetzen, das war das Eine. Die Städte zu erobern, das war etwas Anderes. Die Nachricht vom Abrücken der muslimischen Truppen hatte sich längst in der Gegend um Tiberias rumgesprochen. Die Bauern, die in den Städten Zuflucht gesucht hatten, waren auf ihre Äcker zurückgekehrt oder zu dem, was übrig geblieben war. So ritt Gernot mit seiner Truppe durch ein geöffnetes Stadttor, das zwar bewacht wurde, wie auch die Mauern, aber aus dem mehr Leute herausströmten als herein. Es dauerte nicht lange, eine Frage reichte, und sie standen vor dem Haus des Lehnsherrn von Tiberias. Es war ein großes Haus, mit dicken Mauern, zweistöckig und einer Terrasse auf dem zweiten Stock, aber nicht vergleichbar mit einer europäischen Burg. Dieses Haus bot lediglich Platz, viel Platz, aber keine Sicherheit. Dafür mussten die Mauern und die Soldaten von Tiberias sorgen. „Meldet mich der Herrin von Tiberias”, sagte Gernot zu einer Wache. „Mein Name ist Gernot von Kahlenberg.” Er stieg vom Pferd und führte es am Zügel zum Haus, wo er es stehen ließ. Da kam Berengaria aus dem Eingang herausgeschossen und fiel ihm praktisch um den Hals. „Endlich!”, sagte sie, „ich hatte schon Angst, dass man uns hier vergisst.” „Niemand hat Euch vergessen, wie könnte man das auch. Ich bin hier mit einer Botschaft von König Balduin und um Euch zu helfen.” „Dann komm rein! Ich brauche dich, ich weiß sonst nicht, wie es weitergehen soll!”, entgegnete sie. Halt! Stopp! Sie duzt mich, dann darf ich das auch. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich sorge für deine Sicherheit. Das Lehen bleibt in deiner Hand.” „Jetzt komm erst mal rein! Eine Frau kann doch kein Lehen halten. Das hat es noch nie gegeben.” „Bran, sorge für unsere Pferde und für eine Unterkunft!”, wandte er sich an seinen Freund und fuhr an Berengaria gerichtet fort: „Gehen wir rein, dann erfährst du alles.” Sie hatte ihn am Arm ergriffen und ließ ihn nicht mehr los. Da war jemand in großer Not. Gernot ahnte, dass sein Aufenthalt etwas länger als geplant dauern würde. Sie führte ihn in ein kleineres Zimmer und bat ihn, sich zu setzen. Sie setzte sich neben ihn, ziemlich nah, fand Gernot, der ins Schwitzen geriet, was aber nicht von der Temperatur ausging. Jetzt schossen ihm Gedanken durch den Kopf, die er gar nicht ordnen konnte: Die Frau ist zu alt für dich! Zugegebenermaßen sehr schön. Aber gerade erst Witwe geworden! Das gehört sich alles nicht. Warum nicht? Konventionen! Stimmt nicht. Tankred hatte seine Frau auf dem Sterbebett an Pons von Tripolis sozusagen weitergereicht. In diesem Land war alles möglich. Berengaria hielt immer noch seine Hand, die schon arg schwitzte. Wie würde das weitergehen? „Also, jetzt erzähl mir”, begann sie, „was Balduin über mich beschlossen hat. Soll ich dich jetzt heiraten?” „Ich dich heiraten? Nein, das würde er nie befehlen. Nicht, dass ich etwas dagegen machen könnte, wenn er es befehlen würde, aber so etwas tut er nicht. Balduin hat die Absicht, Ramon zu seinem Lehnsmann zu machen. Das Lehen kann er aber erst mit 18 Jahren antreten. Solange sollst du als Regentin eingesetzt werden, als Vormund, wie auch immer du das bezeichnest. Dann aber leistet Ramon den Lehnseid und du bist dann nur noch Mutter.” „Damit könnte ich gut leben, denn ohne Tiberias hätten wir hier kein Auskommen mehr, eine Rückkehr nach Bar-le-Duc oder in meine Heimat kommt kaum in Frage. Ramon und Gérard sehen hier ihre Zukunft.” „Wo sind die beiden eigentlich?” „Da, wo ein künftiger Lehnsherr zu sein hat”, erwiderte sie, „bei seinen Bauern. Er hilft beim Wiederaufbau. Hier lag ja schließlich genug Baumaterial herum.” „Und was ist mit Guillaume?” „Was soll mit ihm sein? Er ist im Kampf für seinen König gefallen. Das ist das Schicksal eines Lehnsmannes. Wir haben ihn hier beerdigt und die Bevölkerung hat ein großes Kreuz über seinem Grab errichtet. Guillaume war sehr beliebt bei seinen Untertanen. Meine Trauer vollziehe ich im Stillen, nicht in der Öffentlichkeit. Diese Stadt braucht eine starke Frau, keine, die mit ihrem Schicksal hadert. Aber ich bin froh, dass du da bist. Schon in Trani habe ich gewusst, dass wir uns wiedersehen werden. Dass dies unter diesen Umständen geschieht, war nicht vorhersehbar. Aber so ist es nun mal.” Sie legte ihren Kopf an seine Schultern und sagte noch: „Bleib etwas länger! Ich werde dich brauchen, auch eine scheinbar starke Frau muss sich mal anlehnen dürfen.”
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