Leseprobe Gernot von Kahlenberg
Als er die Stallungen erreichte, traf er
zufällig Régis von Montferrat und erzählte
diesem von seinem Vorhaben.
„Ihr wollt euer Pferd bewegen?”
„Ja, mein Pferd hat lange genug ruhig
gestanden. Es wird Zeit, es wieder zu
bewegen.”
„Aber doch wohl nicht so?”, bemerkte
Régis.
„Was heißt ‚nicht so’?”, entgegnete
Gernot.
„Ohne Waffen.”
„Ich möchte doch nur mein Pferd etwas
bewegen. Das ist alles.”
„Junger Mann, ihr seid hier in einer
Gegend, die man zwar das Heilige Land
nennt, aber heilig ist hier wenig. Hier
herrscht Krieg. Sicher sind eigentlich nur
die Städte, und nicht einmal die. Verlässt
man Akkon, muss man immer mit einem
Angriff rechnen. Es gelingt räuberischen
Banden immer wieder, aus den östlichen
Gebieten bis zur Küste vorzudringen.
Zusätzlich gibt es im Augenblick an der
Grenze zu Damaskus wieder einige
Scharmützel. König Balduin hat sich mit
einer kleinen Truppe – nach meiner
Meinung mit einer viel zu kleinen Truppe –
auf den Weg ins Grenzgebiet gemacht, um
dort für Ruhe zu sorgen. Im Heiligen Land
gilt: Will man überleben, dann muss man
gerüstet sein. Schild, Schwert, Bogen,
wenn möglich eine Rüstung gehören dazu.
Und den Helm darf man nicht vergessen.
Das ist ein absolutes Muss. Seht, ich bin
hier der Hafenmeister, ich bin meistens mit
einer kleinen Truppe unterwegs. Trotzdem
würde ich mein Haus nie ohne Schwert
verlassen. Selbst nicht hier in Akkon. Es
gibt Leute, die besuchen selbst den
Gottesdienst nur in voller Rüstung. Ihr
befindet euch zwar im Königreich
Jerusalem, aber flächenmäßig ist dieses im
Vergleich mit Königreichen in Europa nur
sehr klein. Wir beherrschen dieses Land
erst seit gut zehn Jahren. Da kann man
keine Sicherheit erwarten. Zwei Dutzend
Nationalitäten gibt es hier, genauso viele
Sprachen und Religionen oder
Religionsgemeinschaften. Jeder nimmt für
sich in Anspruch, rechtmäßig zu herrschen.
Die anderen glauben das aber nicht und
respektieren nur die Macht. Und diese
steckt in der Bewaffnung.”
Gernot war etwas verdutzt, bedankte
sich aber und versprach Obacht zu geben.
Er war froh, als er die Stadt hinter sich
hatte. Der Ritt tat ihm und dem Pferd gut.
Er ritt am Berg Toron vorbei, von wo er
einen guten Überblick über die Stadt
gewann. Überall an den Mauern wurde
gearbeitet. Sie wurden verstärkt, erhöht,
Lücken wurden geschlossen. Jetzt verstand
er, was Régis von Montferrat gemeint hatte.
Hier lebte man nur hinter dicken Mauern
sicher. Er ritt weiter in Richtung einer
Erhöhung, die sich Tell al-Ajjadija nannte.
Von dort konnte er die ganze Gegend
überblicken. Er drehte sich um und sah
Akkon, links daneben die Küstenebene,
nach Süden erstreckte sich ein zum Teil
sehr hügeliges Land.
Er wollte sich gerade auf den Rückweg
machen, als er plötzlich eine Stimme hörte,
die in gebrochenem Französisch sagte: „Da
ist ja einer der gestern erst
Angekommenen. Kaum da und schon tot.”
Drei Männer zu Pferde zeigten sich, die
mit Schwert und Schild bewaffnet waren.
„Es ist nur die Frage”, antwortete
Gernot auf Arabisch, „wer hier gleich tot
ist.”
Er riss sein Schwert aus der Scheide,
schwang seinen Schild nach vorne und
sprengte mit „Du” auf den ersten der
Männer los. Die Verblüffung ob der
arabischen Wörter stand ihm im Gesicht.
Die Überraschung hatte den Mann einhalten
lassen. Ein Fehler. Ein tödlicher Fehler.
Denn er war noch auf Angriff eingestellt,
nicht auf Verteidigung. Gernot versetzte
ihm zwei heftige Schläge, die ihn aus dem
Sattel beförderten und ihn stark blutend
auf die Erde schickten. Sofort griff Gernot
den nächsten Gegner an, der sich
augenscheinlich von seinem Schrecken
erholt hatte. Es nutzte ihm jedoch wenig,
da er der Kraft Gernots nur wenig
entgegenzusetzen hatte. Er war schon
verletzt, als der dritte Reiter versuchte,
Gernot von hinten anzugreifen. Die
Auseinandersetzung dauerte kaum eine
Minute, bis auch diese beiden am Boden
lagen. Beide waren verletzt, jedoch nicht so
schwer wie der erste Gegner. Vorsichtig
stieg Gernot vom Pferd und näherte sich
den Verletzten. Die rechneten wohl damit,
getötet zu werden und waren überrascht,
als das nicht geschah.
Gernot sammelte die drei Pferde ein,
ebenso die Waffen der Verletzten und sagte
auf Arabisch: „Wenn ihr euch nicht bewegt,
werde ich euch verbinden. Bewegt ihr euch,
seid ihr tot.”
Er riss vom Umhang des ersten
Gegners, der mittlerweile gestorben war,
einige Stoffstreifen ab und verband damit
die beiden anderen. Diese schienen nicht zu
begreifen, was mit ihnen geschah, hielten
aber still. Dann band er die drei Pferde
zusammen, belud sie mit den Waffen,
nahm die Zügel des ersten Pferdes und
bestieg sein eigenes.
„Warum hast du uns nicht getötet „al-
Faris abyad”?”
„Al-Faris abyad”?
Gernot sah an sich runter. Er trug die
weiße Kleidung, die Anna ihm geschenkt
hatte, dazu kam sein Schimmel. Al-Faris
abyad? Nicht schlecht. Der „weiße Ritter”.
Das passte.
„Weil al-Faris abyad keine Wehrlosen
tötet.”
Damit ritt er davon in Richtung Akkon.
Bei den Stallungen traf er wieder auf Régis.
„Pferde gekauft?”, fragte dieser.
„Eher Pferde erstanden. Sie kosteten
nichts.”
••••••••
„Gernot, ich ziehe mit den Resten meines
Heeres nach Jerusalem. Es wird Zeit, dass
ich da nach dem Rechten sehe. Ihr habt ja
bei eurem Sieg über die Fatimiden einige
erfreuliche Beutestücke gemacht. Wenn ich
nur an das Zelt denke, das ist schon
beachtlich. Dazu kommt eine größere
Summe an Geld.”
„Arnulf sagte, es sei genug, um eure
Ausgaben für diesen Kriegszug zu decken
und es würde sogar noch etwas übrig
bleiben.”
„Wie gesagt”, entgegnete Balduin, „ich
ziehe morgen los, aber ich halte es für
angemessen, wenn sich jemand um das
Lehen Tiberias kümmert. Nur für eine
gewisse Zeit. Könnt ihr das übernehmen?”
Gernot klingelten die Ohren. Er
brauchte keine dumme Ausrede mehr, um
nach Tiberias zu gelangen, er ritt in
offiziellem Auftrag.
„Aber gerne”, sagte Gernot, „ihr habt
absolut Recht. Berengaria muss geholfen
werden. Ich könnte für einige Zeit da
bleiben und mich um die Sachen kümmern,
um die sich früher Guillaume gekümmert
hat und seinem Sohn so zur Hand gehen.”
„Das ist es, was ich sagen wollte.
Guillaume hat sein Leben im Kampf für
mein Königreich verloren. Deshalb ist es
Christenpflicht, hier Hilfe anzubieten.”
„Christenpflicht”, dachte Gernot, „wohl
eher nicht. Hier ging es um
Machtinteressen. Ein Lehen stand ohne
Lehnsmann da, sein Sohn war noch zu
jung. Unchristlich wäre es gewesen, dieses
Lehen einem anderen Ritter jetzt
anzutragen, obwohl das durchaus möglich
gewesen wäre, da im Königreich Jerusalem
die Lehen nicht vererbt werden konnten.
Sie waren lediglich an die Person
gebunden.”
Die Gefahr, dass die muslimischen
Truppen doch noch zurückkehren würden,
war gebannt. Der Rückzug war keine Finte,
sondern der Tatsache der christlichen
Einheit zu verdanken. Als sicher war, dass
dieses Heer bald Damaskus erreichen
würde, brach Balduin sein Zelt ab, ließ
seine Lasttiere beladen und zog nach
Süden, nach Jerusalem.
Vom Berg Tabor nach Tiberias war es
nur einen Katzensprung, den Berg runter,
dann noch zwei Stunden mit dem Pferd.
Gernot war zur gleichen Zeit wie Balduin
aufgebrochen und sah gegen Mittag bereits
die Mauern von Tiberias. Es waren keine
furchteinflößenden Mauern, ein Heer aber
würde doch eine gewisse Zeit brauchen, um
die Stadt zu erstürmen. Und ganz ohne
Belagerungsgeräte war auch bei diesen
Mauern nichts zu machen. Maudud hatte
seinen Kriegszug begonnen, ohne dass er
an eine Belagerung überhaupt gedacht
hatte. Das flache Land zu besetzen, das
war das Eine. Die Städte zu erobern, das
war etwas Anderes.
Die Nachricht vom Abrücken der
muslimischen Truppen hatte sich längst in
der Gegend um Tiberias rumgesprochen.
Die Bauern, die in den Städten Zuflucht
gesucht hatten, waren auf ihre Äcker
zurückgekehrt oder zu dem, was übrig
geblieben war. So ritt Gernot mit seiner
Truppe durch ein geöffnetes Stadttor, das
zwar bewacht wurde, wie auch die Mauern,
aber aus dem mehr Leute herausströmten
als herein. Es dauerte nicht lange, eine
Frage reichte, und sie standen vor dem
Haus des Lehnsherrn von Tiberias. Es war
ein großes Haus, mit dicken Mauern,
zweistöckig und einer Terrasse auf dem
zweiten Stock, aber nicht vergleichbar mit
einer europäischen Burg. Dieses Haus bot
lediglich Platz, viel Platz, aber keine
Sicherheit. Dafür mussten die Mauern und
die Soldaten von Tiberias sorgen.
„Meldet mich der Herrin von Tiberias”,
sagte Gernot zu einer Wache. „Mein Name
ist Gernot von Kahlenberg.”
Er stieg vom Pferd und führte es am
Zügel zum Haus, wo er es stehen ließ. Da
kam Berengaria aus dem Eingang
herausgeschossen und fiel ihm praktisch
um den Hals.
„Endlich!”, sagte sie, „ich hatte schon
Angst, dass man uns hier vergisst.”
„Niemand hat Euch vergessen, wie
könnte man das auch. Ich bin hier mit einer
Botschaft von König Balduin und um Euch
zu helfen.”
„Dann komm rein! Ich brauche dich, ich
weiß sonst nicht, wie es weitergehen soll!”,
entgegnete sie.
Halt! Stopp! Sie duzt mich, dann darf ich
das auch.
„Du brauchst keine Angst zu haben, ich
sorge für deine Sicherheit. Das Lehen bleibt
in deiner Hand.”
„Jetzt komm erst mal rein! Eine Frau
kann doch kein Lehen halten. Das hat es
noch nie gegeben.”
„Bran, sorge für unsere Pferde und für
eine Unterkunft!”, wandte er sich an seinen
Freund und fuhr an Berengaria gerichtet
fort: „Gehen wir rein, dann erfährst du
alles.”
Sie hatte ihn am Arm ergriffen und ließ
ihn nicht mehr los. Da war jemand in
großer Not. Gernot ahnte, dass sein
Aufenthalt etwas länger als geplant dauern
würde.
Sie führte ihn in ein kleineres Zimmer
und bat ihn, sich zu setzen. Sie setzte sich
neben ihn, ziemlich nah, fand Gernot, der
ins Schwitzen geriet, was aber nicht von
der Temperatur ausging.
Jetzt schossen ihm Gedanken durch den
Kopf, die er gar nicht ordnen konnte: Die
Frau ist zu alt für dich! Zugegebenermaßen
sehr schön. Aber gerade erst Witwe
geworden! Das gehört sich alles nicht.
Warum nicht? Konventionen! Stimmt nicht.
Tankred hatte seine Frau auf dem
Sterbebett an Pons von Tripolis sozusagen
weitergereicht. In diesem Land war alles
möglich.
Berengaria hielt immer noch seine
Hand, die schon arg schwitzte. Wie würde
das weitergehen?
„Also, jetzt erzähl mir”, begann sie,
„was Balduin über mich beschlossen hat.
Soll ich dich jetzt heiraten?”
„Ich dich heiraten? Nein, das würde er
nie befehlen. Nicht, dass ich etwas dagegen
machen könnte, wenn er es befehlen
würde, aber so etwas tut er nicht. Balduin
hat die Absicht, Ramon zu seinem
Lehnsmann zu machen. Das Lehen kann er
aber erst mit 18 Jahren antreten. Solange
sollst du als Regentin eingesetzt werden,
als Vormund, wie auch immer du das
bezeichnest. Dann aber leistet Ramon den
Lehnseid und du bist dann nur noch
Mutter.”
„Damit könnte ich gut leben, denn ohne
Tiberias hätten wir hier kein Auskommen
mehr, eine Rückkehr nach Bar-le-Duc oder
in meine Heimat kommt kaum in Frage.
Ramon und Gérard sehen hier ihre
Zukunft.”
„Wo sind die beiden eigentlich?”
„Da, wo ein künftiger Lehnsherr zu sein
hat”, erwiderte sie, „bei seinen Bauern. Er
hilft beim Wiederaufbau. Hier lag ja
schließlich genug Baumaterial herum.”
„Und was ist mit Guillaume?”
„Was soll mit ihm sein? Er ist im Kampf
für seinen König gefallen. Das ist das
Schicksal eines Lehnsmannes. Wir haben
ihn hier beerdigt und die Bevölkerung hat
ein großes Kreuz über seinem Grab
errichtet. Guillaume war sehr beliebt bei
seinen Untertanen. Meine Trauer vollziehe
ich im Stillen, nicht in der Öffentlichkeit.
Diese Stadt braucht eine starke Frau, keine,
die mit ihrem Schicksal hadert. Aber ich bin
froh, dass du da bist. Schon in Trani habe
ich gewusst, dass wir uns wiedersehen
werden. Dass dies unter diesen Umständen
geschieht, war nicht vorhersehbar. Aber so
ist es nun mal.”
Sie legte ihren Kopf an seine Schultern
und sagte noch: „Bleib etwas länger! Ich
werde dich brauchen, auch eine scheinbar
starke Frau muss sich mal anlehnen
dürfen.”